Zum achten Mal präsentierte sich die freie Nürnberger Kunstsession der Öffentlichkeit. Durch die gestiegene Nachfrage der KünstlerInnen nach Ausstellungsmöglichkeiten fand die Session 1995 erstmalig in den größeren Räumlichkeiten des KOMM-Bildungsbereiches statt.
Die Gruppen der ANA (Autonome Nürnberger Akademie) das LOCH und die QUINTESSENZEN sowie zahlreiche EinzelkünstlerInnen werden mit Spaß und schier unermesslichen kreativen Ideen auch in diesem größeren Umfang dafür sorgen, dass die Öffentlichkeit auf Ihre Kosten kommen wird.
Die Einmaligkeit der "Freien Nürnberger Kunstsession" liegt meines Erachtens im wesentlichen in zwei Faktoren begründet:
Diese bewusst gewählte offene Struktur machte es demnach auch möglich, dass akademische KünstlerInnen
neben AudodidaktInnen, organisierte KünstlerInnen neben unorganisierten, Bekannte neben Unbekannten ihre Werke
der Öffentlichkeit zugänglich machen können.
So ist es nicht verwunderlich, dass sich die "Freie Nürnberger Künstlersession" in der Zwischenzeit
zu einem wahren "Katalysator" in Sachen künstlerischer und avantgardistischer Aktionen in der Region
herauskristallisierte.
Namen wie Harri Schemm, Peter Engel, Helmut Jahn, Barbara Denzler, Stefan Saffer, Peter Habermann, Rudi Lilly, Johannes Nürnberger stehen hier stellvertretend für inzwischen weit über 300 KünstlerInnen, die im Laufe der Jahre die Session als Plattform nutzen.
Sowohl die Session, als auch Einzelaktionen von KünstlerInnen wie Bernd de Payrebrune, Christian Schneider oder Angelika Reinike zeigen mir, wie unmittelbar die Verschmelzung außergewöhnlicher Kreativität mit hintergründiger und tiefsinniger gesellschaftsrelevanten Fragestellungen hier gelingt. Dabei ist nicht mehr der Blick auf die Realität das ausschlaggebende Ereignis für den/die KünsterInnen ein Werk zu kreieren, sondern das Werk selbst.
Im Gegensatz zur traditionellen Kunst vertraut die moderne und nach Ihr auch die postmoderne Kunst nicht mehr auf eine Wirklichkeit die wiedergegeben werden will, sondern "sie hat erkannt, dass es mit der Wirklichkeit nichts ist (...)" (W. Welsch) und hat daher begonnen, sich an sich selbst heraus weiterzuentwickeln. Dazu greift sie zwangsläufig auf das Mittel der Reflektion als Kontrolle, wie auch als Motor zur Weiterentwicklung zurück.
Postmoderne Kunst als unmittelbarer Ausdruck gesellschaftlicher Fragestellungen und ihrer Reflektionen darüber
ermöglicht uns, durch die ihr eigene Sichtweise der Dinge, einen ganzheitlichen Zugang zu originären
Sachverhalten. Sie erfordert daher eine Wahrnehmung, die mit Innewerden, Gewahrwerden, Merken, Fühlen - wie Welsch
dies ausdrückt - zu tun hat. Sie erfordern auch, aufgrund ihrer bereitgestellten "Wahrnehmungspotentiale"
eine besondere "Wahrnehmungsfähigkeit", die zugegebenermaßen auch das Bemühen des Einzelnen
voraussetzt, sich diese zu erschließen.
Postmoderne Kunst - um es hier stark verkürzt und postulierend festzustellen - ist aufgrund der ihr eigenen Praxis
von Dekomposition, Reflektion und Experiment keine Kunstrichtung, die auf Einheit und Homogenität, sondern auf
Vielheit und Pluralität setzt. Das heißt " kein Kunstwerk ist das Kunstwerk, kein Stiel der Stiel, kein
Ansatz der Ansatz" (Welsch). Ein Kunstverständnis also, das primär Wiederspieglung unserer pluralen
Demokratie ist.
Ganz diesem Modellcharakter postmoderner Kunst widersprechend ist dagegen die gesellschaftliche Realität der
Kunstschaffenden. KünstlerInnen als RepräsentantInnen und VorreiterInnen von Demokratie und Pluralität,
müssen in diesem Freistaat immer noch betteln gehen, wollen sie finanzielle oder infrastrukturelle
Unterstützung.
Ganz vom Wohlwollen der "edlen SpenderInnen" abhängig, fristen KünstlerInnen ihr Hungerdasein oder
leben von Nebenjobs, die ihre Haupteinnahmequellen sind. Dieses feudalistische Prinzip voraufklärerischer Zeiten ist
leider repräsentativ für die Kulturszene in diesem Land, insbesondere dieses Freistaates.
Feste Strukturen durch Fonds für freischaffende KünstlerInnen, Existenzgründerdarlehen (Absicherung durch
staatliche Ausfallbürgerschaften), Förderung von Atelierbauten, erweiterte professionelle
Ausstellungsflächen, gezielte Nachwuchs- und Altenförderung, Schaffung eines Fonds für soziokulturelle
Angelegenheiten, wären Forderungen, die weder Millionen verschlängen, noch Unmögliches von den Regierenden
verlangten, sondern die lediglich den politischen Willen zur Förderung zeitgenössischer Kultur zeigen
brauchten.
Die "Freie Nürnberger Kunstsession" lässt ahnen, was für Potentiale in der Künstlerszene brachliegen, da die Strukturen zu deren Entfaltung fehlen. Nur durch lockeres ehrenamtliches Engagement, finanzielle Unterstützung zum Teil durch den eigenen Geldbeutel und soziokulturellen, Infrastrukturmöglichkeiten, Kulturmöglichkeiten, wie das Nachbarschaftshaus oder das KOMM, ist es überhaupt möglich geworden, die damalige Werkschau durchzuführen.
Matthias Dachwald KOMM - Bildungsbereich