KOMM-Bildungsbereich

1990 - 1999

"Die künstlichen Paradiese"

Foto mit Bannern und Tisch

Eine Ausstellung zu Rausch, Sucht und Grenzerfahrungen

Die Ausstellung "Die künstlichen Paradiese" (nach einem Titel Charles Baudelaires) wuchs als Idee und Konzeption aus der jahrelangen Auseinandersetzung der Komm-Mitarbeiter mit dem Drogen- und Suchtproblem der Besucher des Hauses. Ihren theoretischen Niederschlag fand diese Auseinandersetzung im Drogenkonzept des Komm von 1979 bzw. dem Diskussionsbeitrag "Drogen 2000", den das KOMM zusammen mit der alternativen Drogenhilfe Mudra und dem Institut für soziale und kulturelle arbeit ISKA 1992 der Öffentlichkeit präsentierte. Aus diesen Erfahrungen heraus will die Ausstellung andere Wege gehen als die der reinen Darstellung von Fakten mit abschreckender Wirkung. Sie will gleichsam bei den Motiven des Drogenkonsums ansetzen, seine Gefahren, aber auch Stigmatisierungen im gesellschaftlichen Raum darstellen, ohne die Faszination und das Lockende daran einfach zu leugnen.
Das ästhetische Konzept der Ausstellung steht in der Tradition der zwei großen Konzeptausstellungen des Bildungsbereichs im KOMM - "Mythen und Moden" sowie "betrifft: Sicherheit", deren tragendes Element die Erstellung von Erlebnisräumen war, die bestimmte Gefühlszustände visualisieren und damit der Reflexion zugänglich machen wollen.
Diese Erlebnisräume sind also nicht gedacht als dokumentarische Nachstellung von bestimmten Lebenswelten (etwa die Nachstellung einer Fixerwohnung mit stilisierter Schaufensterpuppe, die sich gerade die Nadel ansetzt), sondern versuchen, auf einer latenten Ebene von Sehnsüchten, Wünschen, Ängsten usw. anzusetzen und diese sinnlich und diskursiv zugänglich zu machen.

Die verschiedenen Räume und ihr Aufbau:

"Normales Leben" - Foyer:

Das Foyer hat zum thematischen Schwerpunkt: Die Versprechungen und Entfremdungen der Warenwelt, die den Menschen gleichzeitig Befriedigung und Glück verheißt, diese aber als eine endlose Kette zu steigernder Wünsche und kaufbarer Artikel vorstellt, die im nichts endet.

Gestaltung:

In der linken Nische steht im Hintergrund ein Schwarz-Weiß-Großfoto in der Hauptkonsumstraße Nürnbergs (Breite Gasse). Circa drei Meter vor dem Foto wird die Nische zum Zuschauerraum hin durch einen Gazevorhang abgeschlossen, durch den das durch Strahler beleuchtete Foto noch zu sehen ist wie hinter Milchglas. Auf diese Oberfläche werden mit einem Diaprojektor Farb-Bilder von Waren oder Verkaufsszenen projiziert.

Laden © KOMM-Bildungsbereich

Auf der anderen Seite des Foyers sitzen vor einem schwarzen Vorhang Schaumstoffpuppen auf alten Kinostühlen, die auf das Großfoto ausgerichtet sind. Sie sind gleichzeitig das Publikum der Waren-Dia-Schau... An den beiden abgeschrägten Wänden beiderseits der Diaprojektion, also der "geheimen Versprechen der Warenwelt" (W. Benjamin), sind zwei Texte angebracht. Rechts steht eine Tabelle mit nüchternen Zahlenkolonnen. Links steht das Gedicht eines Fixers.

Material:

  • Schwarz-Weiß-Foto, mittels Scanner vergrößert auf 320 cm x 250 cm, mit Sprühkleber aufgezogen auf Pressspanplatte
  • Vorhang aus schwarzen Bühnenmolton zum Abdunkeln, 400 cm x 250 cm
  • 2 Strahler zum Beleuchten des Fotos
  • Graugestrichener Holzrahmen mit Gobelintüll bespannt 400cm x 250 cm
  • Karusseldiaprojektor
  • 80 Dias mit Aufnahmen aus der "Warenwelt" Nürnbergs (Schaufensterdekorationen, Passanten etc.)
  • Vorhang aus schwarzen Bühnenmolton, 1200 cm x 300 cm
  • Kinobestuhlung, 1 x 4, 3 x 3, 1 x 2 Sitze in einer Reihe
  • 11 lebensgroße Schaumstoffpuppen mit bemalten Gesichtern
  • 2 Textvorlagen, mittels Scanner vergrößert auf 200 cm x 150 cm, mit Sprühkleber aufgezogen auf Sperrholzplatten

"Risiken und Grenzüberschreitungen im Adventskalender" - Gang

Der lange Gang eignet sich als Symbolisierung eines imaginären Weges. Er ist als ein Tunnel konzipiert, von dessen Ende ein heller - bisweilen blendender - Lichtstrahl auf den eintretenden Betrachter zu kommt. Was dieses Licht bedeutet, bleibt ungewiss: es könnte eine Verheißung, ein Erlösungsversprechen sein, es könnte aber auch sein, was George Tabori einmal über die Metapher des Lichtes am Ende des Tunnels sagte: Man könne sich nie sicher sein, dass es nicht vom entgegenkommenden D-Zug stamme.

Gleichzeitig soll über das lineare Licht die Linie dargestellt werden, von der man abweichen muss, wenn man hin will zu dem, was im Schatten liegt und was durch Aufleuchten im Dunkeln Neugierde erweckt. Man muss dabei ein gewisses Risiko eingehen, da nicht immer gleich vollkommen einsehbar ist, was einen erwartet.

Gestaltung:

Am Eingang und am Ausgang des Ganges stehen jeweils Zitate von Baudulaire, die die Stationen eines Trips markieren (der Aufbruch, der Tag danach). Vom Ende des Ganges kommt das Licht eines grellen Scheinwerfers, der durch einen kleinen Schlitz in der Schlusswand gebündelt wird. Sein Schein reicht bis zum Beginn des Gangs. Dieser Lichteffekt wird verstärkt durch die Umrahmung des Eingangs durch eine Reihe bunter Glühbirnen (etwa wie am Jahrmarkt). Am Ende des Ganges gibt es einen Durchgang in den Offenen-Tür-Bereich; dort hat man einen Blick auf den "nackten" Scheinwerfer, hinter die Kulissen. Im Gang selbst ist es bis auf den blendenden Scheinwerfer dunkel.
Wie ein Adventskalender öffnen sich an einigen Stellen des Ganges Vitrinenfenster oder Türen zu weiteren Räumen. Die Bandbreite und Alltäglichkeit der verschiedenen Sächte und Grenzerfahrungen soll in verschiedenen Formen dokumentiert werden.

Material:

  • Pressspanplatten für die Gangarchitektur, gestrichen mit schwarzer Farbe
  • Glasscheiben für Vitrinenfenster
  • Vorhänge aus schwarzem Bühnenmulton für die Raumeingänge
  • Holzrahmen mit Elektrofassungen für ca. 30 bunte Glühbirnen
  • Textvorlage DIN A 3, mit Sprühkleber auf die Gangoberfläche aufgezogen
  • HDI-Scheinwerfer, 1,2 Kilowatt (Bühnenscheinwerfer, der Tageslicht simuliert)
Gang © KOMM-Bildungsbereich

Raum I: Reflexionsraum

Dieser Raum ist insbesondere für Besucher von Führungen gedacht, die hier Platz finden, um in der Gruppe noch einmal über die Ausstellung zu sprechen ...
Im Raum stehen ca. 20 Stühle. An den Wänden sind Suchtdefinitionen aus dem Lexikon der Süchte auf rotem DIN A 3 - Papier gedruckt und laufen als durchgängiges Band durch den Raum.
Eine Vitrine, die sich auf den täglichen Drogenkonsum bezieht (Einwegspritzen teilweise mit Blut gefüllt, weißes Pulver), stellt die realen Folgen einer Abhängigkeit von harten Drogen dar.

Material:

  • 20 Stühle
  • 145 Kopien auf rotem DIN A 3-Papier
  • Einwegspritzen
  • 2 Textvorlagen

Raum II: Stahlraum

Dieser Raum symbolisiert in seinem Aufbau das ahnungslose und doch sehende Hineinrutschen in die Sucht, an dessen Ende eine Sackgasse entsteht. Zugleich aber - als Kontrast und Komplement - stellt sie neben dem Rauscherlebnis und seiner Wiederholung in gleichsam immer engere Bahnen auch die wissenschaftlich-medizinische Erkenntnisform da, die das Problem der Sucht, trotz aller ihrer definitorischen Anstrengungen, noch nicht - und vielleicht niemals - in den Griff bekommen konnte.

Gestaltung:

Vom Gang her sind zwei Eingänge sichtbar, die in den scheinbar gleichen Raum führen. Der ursprüngliche eine Raum mit zwei Türen wird durch drei Stahlwände in zwei Gänge aufgeteilt. Betritt man jeweils die dadurch entstehenden Räume, werden sie beim Durchschreiten enger, bis sie trichterförmig enden. Durch die Decke, eine weiße Stoffbespannung , dringt indirektes diffuses mildes Licht. Der Strahl glänzt matt. Der Boden ist in stahlfarbenem Grau gestrichen.
Ab den Wänden werden als Lautschriften unterschiedliche Zitatfolgen angebracht: in einem Gang stehen medizinische und wissenschaftliche Zitate über Suchtwirkungen usw.; im anderen Gang literarische Zitate über Suchterlebnisse. Durch das Text-Layout als übereinanderstehende fortlaufende Texte wird der Besucher, der am Anfang der Schnecke zu lesen beginnt, unmerklich in die Sackgasse geführt.

Material:

  • 24 Stahlbleche, 100 cm x 250 cm x0 ,5 cm, aneinandergeschweißt zu 3 Wänden mit 250 cm Höhe
  • Pressspanplatten, auf den Grundriss der Konstruktion zugeschnitten; die Stahlwände werden zum Stabilisieren am unteren Ende an die Holzplatten angeschweißt; mit grauer Fußbodenfarbe gestrichen
  • 8 Holzplatten, 4 cm x 2,5 cm x 250 cm, werden auf oben an die Stahlbleche geschweißte Schrauben aufgesetzt zu Stabilisierung der Konstruktion
  • weißer Baumwollstoff, 1200 cm x 300 cm, mit Schnüren für die Befestigung versehen
  • Strahler zur indirekten Beleuchtung
  • 24 Textvorlagen auf selbstklebender Kopierfolie (DIN A 3) kopiert

Raum III: Sargraum

Dieser Raum soll veranschaulichen: die Todesgefahr und zugleich die gesellschaftliche Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern, die nur dort interessieren, wo sie für eine sensationelle Meldung taugen, aber als Individuen und Menschen hinter der Schlagzeile in Vergessenheit zu geraten drohen.

Glücksraum © KOMM-Bildungsbereich

Gestaltung:

Der Raum ist in einem antiseptischen Weiß gehalten, das ja in östlich-buddhistischen Religionen (die in der Rechtfertigung des Drogenkonsums schon immer eine wichtige Rolle spielten - der Übergang, das Hier und Jetzt, Augenblick gegen die westliche Rationalität der Geschichte: Vergangenheit und Zukunftsdenken usw.) oft auch als Farbe der Trauer verstanden wird. Diese Doppeldeutigkeit der Farbe weiß (als kalte Farbe und zugleich Signal der transzendenten Rites de Passage) ist ein wichtiges Gestaltungsmittel.
In der Mitte dieses Raumes steht eine Totenbahre (Seziertisch), abgeschabt und die Bedeutungslosigkeit des Todes anzeigend. Von der Decke hängen mit Text bedruckte Stofffahnen, die unten mit vietnamesischen Trauerglöckchen beschwert sind.
Auf den Fahnen (wie eine moderne "Kaligraphie" der Massenmedien) stehen im unteren drittel Zeitungsmeldungen zu Drogentoten. Auf einer Wand hängen drei gleiche Fahnen, die ein Schicksal der Anonymität entreißen wollen - es ist zwar auch eine Zeitungsgeschichte, aber sie erzählt nicht nur das Ergebnis eines Lebens - der vorzeitige Tod - sondern auch die Geschichte, die dahin geführt hat. Auf der gegenüberliegenden Wand steht in großen Lettern:

Sargraum © KOMM-Bildungsbereich

In dem Raum riecht es nach Krankenhaus/Leichenhaus ...

Material:

  • Seziertisch
  • Muldenwagen
  • 13 Stoffbahnen aus weißem Baumwollchintz, 45cm x 130cm
  • 26 vietnamesische Trauerglöckchen
  • 6 Bambusstecken
  • 1 l Mischung aus Konservierungs- und Desinfektionsmittel

Raum IV: Glücksraum - Toninstallation

Dieser Raum soll versuchen, das einsame Glücksgefühl, das - als Grenzgang - leicht in Angst kippen kann, auditiv umzusetzen.

Gestaltung:

Der Raum wird durch warmgetönten Stoff, der von außerhalb indirekt beleuchtet ist, in eine Art lichtes Zelt verwandelt. In der Mitte steht eine rote Ledercouch. Der Boden ist mit weißem Floorteppich belegt. An der der Zeltöffnung gegenüberliegenden Wand hängt ein Textzitat.
Eine Toninstallation ist so angebracht, dass der Ton scheinbar an den Wänden des Raumes wie eine waagrechte Klangkaskade entlangläuft. Eigens für die Ausstellung komponierte Percussionsmusik versucht, den Zustand des Glücks, der Furcht, der Grenzüberschreitung usw. hörbar zu machen.

Material:

  • weißer Bühnenmolton, schwer entflammbar, in Stoffbahnen: 3 à 3 m, 5 à 12 m, 1 à 9 m und 1 à 6 m aneinander genäht und mit Schnüren für die Aufhängung versehen
  • Holzlattengerüst, 350 cm x 400 cm x 350 cm
  • weißer Floorteppich, 400 cm x 500 cm
  • rote Ledercouch
  • Textvorlage auf selbstklebender Kopierfolie

Veranstalter und Partner:

Eine Produktion des KOMM-Bildungsbereichs, der Kulturwerkstatt Erlangen und der Psychosozialen Beratungsstelle des Jugendamtes der Stadt Nürnberg im Rahmen des Projekts "JUMP - Jugend-Modellprojekt Prävention", gefördert aus Mitteln des Bundesministeriums für Frauen und Jugend.

Copyright: Bildungsbereich

Ausstellung davor